Bis die finanziellen Folgen des Urteils für RWE klar sind, dürfte es noch eine Weile dauern. Sicher ist nur, Schaden wird der Konzern durch den Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht nehmen. Die Energieversorger RWE, E.ON und Vattenfall hatten vor der obersten juristischen Instanz gegen den 2011 beschlossenen Atomausstieg geklagt. Im Schatten der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima hatte die Regierung beschlossenen deutsche Meiler schneller vom Netz zu nehmen als ursprünglich geplant. Die Stromkonzerne sahen darin eine rechtswidrige Enteignung durch den Staat und hatten gegen den Beschluss geklagt.

Keine Enteignung, keine Milliarden


In dem Verfahren haben RWE & Co. mit dem Urteil nun einen Etappensieg errungen. Demnach ist die Regierung verpflichtet die Konzerne für die aus ihrem Vorgehen entstandenen Folgen "angemessen" zu entschädigen. Eine schnelle Einigung zeichnet sich aber auch nach dem freundlichen Urteilsspruch nicht ab. Denn die Karlsruher Richter stellten fest, dass die Konzerne durch die politische Kehrtwende vor fünf Jahren nicht enteignet wurden. Einem Börsianer zufolge wäre dies das Traumszenario der Anleger gewesen, das mit Sicherheit durch zweistellige Kursgewinne bejubelt worden wäre.

Einzelne Vorschriften sind laut dem BVerfG aber mit der Eigentumsfreiheit unvereinbar, weshalb der Gesetzgeber nun bis Ende Juni 2018 nachbessern müsse. Marktteilnehmer erwarten nun ein zähes Ringen darum, was als Ausgleichsregelung "angemessen" sein könne. Das Gericht stellte klar, dass sie "nicht immer in eine finanzielle Leistung münden" muss. Sie könne auch "in Übergangsregelungen oder anderen Alternativen" bestehen - zum Beispiel auch Laufzeitverlängerungen für einzelne Kraftwerke. Hintergrund: Den Großversorgern wird durch das Urteil noch kein Geld zugesprochen. Dazu müssen die Konzerne ihre Schadenersatzforderungen vor anderen Gerichten durchsetzen. Um welche Summe es dabei geht ist unklar. Laut einzelner Schadensangaben und Brancheninformationen dürfte es um rund 19 Milliarden Euro gehen. Offen ist zudem, ob die Unternehmen ihre Ansprüche wirklich durchsetzen werden. Denn aktuell laufen auch Gespräche über die Aufteilung der Kosten für die Entsorgung der atomaren Altlasten. Der Staat will den Kraftwerksbetreibern die Haftungsrisiken für die Endlagerung abnehmen - und im Gegenzug sollten diese eigentlich alle Klagen fallenlassen.

Deutschlands zweitgrößter Energiekonzern RWE erwartet selbst keine großen Summen. "Wir gehen nicht davon aus, dass hier Entschädigungen in Milliardenhöhe erfolgen werden", sagte eine Sprecherin des Unternehmens am Dienstag in Karlsruhe nach der Bekanntgabe der Entscheidung. Wie hoch Entschädigungen, die die Verfassungsrichter grundsätzlich zugelassen hatten, ausfallen könnten, sei noch nicht abzuschätzen. "Hier ist zunächst auch mal der Gesetzgeber gefordert", erklärte die RWE-Sprecherin. "Wenn der mit uns darüber Gespräche führen will, sind wir dazu natürlich gerne bereit und offen."

Urteil als Handelsmasse



Analyst Michel Debs von der US-Investmentbank Citigroup hatte in dem Urteil bereits im Vorfeld eher den Ausgangspunkt eines langen Lösungsweges gesehen. Debs sieht auch die Möglichkeit, dass die Konzerne das Urteil als Trumpfkarte im Entsorgungspakt zu den atomaren Altlasten nutzen können. Auch Analyst John Musk von der kanadischen RBC Capital sprach ebenfalls von einem ersten Schritt. Es könne Jahre dauern, bis das endgültige Ergebnis der aktuellen Entscheidung feststehe. Ein Börsianer sprach angesichts dessen und der positiven Kursreaktion gar von einem "perfekten Zeitpunkt zum Ausstieg aus den Versorgeraktien. Die früheren Witwen- und Waisen-Papier hatten mit der Energiewende schwere Kursstürze erlitten und konnte sich davon aufgrund mangelnder Zukunftsperspektiven bisher kaum erholen.

Auf Seit 2: Einschätzung der Redaktion

Einschätzung der Redaktion



Mit einem Anstieg von über 2,5 Prozent reagierte die RWE Aktie sehr positiv auf das Urteil. Der Richterspruch dürfte jedoch nur kurz als Kurstreiber wirken denn es bleibt unklar, wie viel Kapital RWE aus der Entscheidung für sich schlagen kann. Allerdings hat der Stromversorger seiner Verhandlungsposition dank des Urteils deutlich verbessert. Bei Fragen nach der Kostenverteilung für Atomendlager oder Laufzeiten der Meiler, könnte der Konzern wertvolle Verbesserungen für sich herausholen. Weiterhin positiv ist der erfolgreiche Börsengang der Erneuerbaren Energien Tochter Innogy.

Der IPO spülte RWE dringend benötigte frische Gelder in die Kassen und kann dank eines Anteils von 77 Prozent an Innogy auch in Zukunft als Geldquelle fungieren. Zudem stellte der Versorger kürzlich die Wiederaufnahme der Dividendenzahlung in Aussicht. Mit Blick auf den stabilisierten Aktienkurs scheint eine Pleite damit endgültig ausgepreist. Allerdings setzen nur sehr risikobereite Anleger auf dieser Basis auf weitere Kurssteigerungen denn die Frage, wie der Konzern wieder wachsen soll, bleibt weiter unbeantwortet. Im Frühjahr 2017 will der neue RWE-Chef Rolf Martin Schmitz seine Zukunftsstrategie präsentieren. Bis dahin setzt BÖRSE ONLINE den Wert auf beobachten.