Beim Autokonzern Volkswagen werden die Machtverhältnisse neu geordnet. Konzernchef Herbert Diess muss die Führung der Kernmarke VW abgeben. Neuer Markenchef wird Ralf Brandstätter, der bereits das operative Geschäft der Marke geleitet hat. Der Aufsichtsrat hat diese Entscheidungen nach einer turbulenten Sitzung am Montag getroffen. Medienberichten zufolge soll Diess im Vorfeld das Kontrollgremium angegriffen, dessen Integrität bezweifelt und Verstöße gegen Compliance-Regeln moniert haben - wofür er sich später entschuldigen musste. Nun soll er zwar Konzernchef bleiben und den Autobauer insbesondere bei der Elektromobilität voranbringen. Doch mit Abgabe der Marke VW verliert er deutlich an Einfluss.
Branchenexperten werten die Personalie als Chance für einen Neustart. Laut Nord/LB- Analyst Frank Schwope sei es an der Zeit gewesen, angesichts zunehmender Komplexität die Führung von Marke und Konzern wieder zu trennen.
Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer zeigt sich dagegen skeptisch. Konzernbetriebsratschef Bernd Osterloh habe massiv die Entmachtung von Diess betrieben. Gleichzeitig habe sich Diess mit den Software- und Anlaufproblemen beim Golf 8 und dem Elektroauto ID. 3 sowie unglücklichen Interviewaussagen angreifbar gemacht. Der künftige Markenchef Brandstätter sei mitverantwortlich für die Probleme. "Es sieht aus, als hätte man geputscht, aber kein Konzept für die Zeit nach dem Putsch", warnt Dudenhöffer. Die Zukunft von VW sei unklarer denn je.
Der 61-jährige Diess steht seit Längerem in der Kritik. Zu den Softwareproblemen bei wichtigen Modellen kam der Machtkampf mit den Arbeitnehmervertretern unter Führung von Betriebsratschef Bernd Osterloh. Volkswagen steckt mitten im Umstieg von Verbrennern auf Elektroautos, den Diess maßgeblich angeschoben hat. Gleichzeitig investiert Wolfsburg Milliarden in die Digitalisierung.
"Stehen vor Horrorquartal"
Hintergrund des jüngsten Streits zwischen Diess und dem Kontrollgremium soll auch der Wunsch des Konzernchefs nach einer vorzeitigen Vertragsverlängerung gewesen sein. Dieses auch an die Arbeitnehmervertreter herangetragene Ansinnen war durch Indiskretionen an die Öffentlichkeit gelangt, was Diess als Gesetzesverstoß gewertet habe. Bereits seit Tagen habe es im Kontrollgremium heftige Diskussionen gegeben, bei denen es um Diess’ Zukunft im Konzern ging.
Autoanalyst Marc-René Tonn vom Bankhaus M.M. Warburg sieht mit der Trennung von Marken- und Konzernführung die Perspektive, auch die Blockade zwischen Betriebsrat und Konzernführung zu lösen. Experte Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler hält die Auswirkungen der Personalie auf den Aktienkurs dagegen für eher begrenzt. "Ich bin überrascht, wie stark sich die Autowerte zuletzt erholt haben, obwohl wir vor einem Horrorquartal stehen", warnt Pieper, der zwar für VW eine Kaufempfehlung hat, aber kurzfristig eher zu Gewinnmitnahmen rät. Auf Sicht von ein bis zwei Jahren habe die VW-Aktie mit wieder besserer Konjunktur aber gute Perspektiven auf überdurchschnittliche Kurszuwächse.
Volkswagen selbst erklärte am Tag nach der Aufsichtsratsentscheidung, es sei der ideale Zeitpunkt, die Zuständigkeiten an der Spitze von Marke und Konzern neu zu ordnen. "Dabei geht es vor allen Dingen darum, jetzt sowohl Konzern als auch Marke bestmöglich auf die kommenden Aufgaben vorzubereiten und die Kräfte zu bündeln." Es sei nur logisch, so hieß es, dass mit Brandstätter "einer der erfahrensten Manager des Konzerns" den VW-Vorstandsvorsitz übernehme, der als COO den Kurs der Marke erfolgreich mitgestaltet habe. Diess selbst hatte Brandstätter 2018 als seine rechte Hand bei Volkswagen installiert, um sich stärker auf seine Aufgaben als Konzernchef konzentrieren zu können.